Smarte Augen

Als Telefon vergrößern sie den Radius, in dem man andere hören kann. Mit den richtigen Apps erweitern Smartphones auch die Fähigkeit des Sehvermögens.

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Lesezeit: 8 Min.
Von
  • Susanne Buchner-Sabathy
Inhaltsverzeichnis

Ist dies die grüne Bluse oder die weiße? Enthält die Dose im Küchenschrank Kokosmilch oder Tomatenstücke? Was steht auf der Speisekarte, die mir die Kellnerin gerade in die Hand gedrückt hat? Ist unter den Kundenkarten in meiner Geldtasche auch die eine, die mir jetzt gerade einen Rabatt verschaffen würde? Und wie sieht eigentlich das Zimmer aus, in dem ich mich befinde? Blinde Menschen stellen sich häufig solche Fragen.

Nun gibt es hilfreiche Apps, die die Kamera des Smartphones sozusagen als Auge nutzen und wertvolle Informationen über die visuelle Umgebung liefern. Allerdings fast ausschließlich für iOS, denn seit iOS 3 gehört das revolutionäre Bildschirmleseprogramm VoiceOver zu den Standardfunktionen der mobilen Apple-Geräte. Android dagegen fragmentiert seine Zugänglichkeitshilfen und stellt seine blinden Nutzer schon bei der Herstellung einer eingeschränkten Bedienbarkeit vor zahlreiche Hürden – darunter auch visuelle Captchas. Wegen der äußerst unbefriedigenden Zugänglichkeit (Accessibility) der Android-Geräte werden im Folgenden Android-Apps kaum besprochen.

Die in diesem Artikel vorgestellten Apps hat die Autorin alle unter iOS 6 getestet. Aus eigener Erfahrung weiß sie jedoch, dass jede Änderung im iOS und jedes App-Update Änderungen in der Bedienbarkeit nach sich ziehen. Apps können für Blinde von einem Tag zum anderen unbrauchbar werden – und umgekehrt.

Die Welt ist bunt und Farben sind auch für blinde Menschen wichtig. Zum Beispiel möchte man sich ja schick kleiden. Auf dem englischsprachigen Markt gibt es zwei hilfreiche Apps, die unter anderem Farberkennung ermöglichen: VisionHunt und SeeingAssistant-Home LITE (jeweils 0,89 Euro).

Für alle, die nicht wissen, was sie mit „dark magenta“ kombinieren sollen, gibt es zudem mit ColorSay zum Preis von 3,59 Euro eine brauchbare deutsche, die allerdings – im Gegensatz zu den oben genannten – keine weiteren Werkzeuge bietet. Im Test erkannte sie aber immerhin das Limonengrün eines Tops besser als die englischen, die in diesem Fall zwischen „white“ und „grey“ schwankten. Für den Boutiquenbummel ist eine geschmackssichere Freundin zwar weiterhin unersetzlich, aber für die Orientierung im Kleiderschrank erweisen sich die genannten Apps als durchaus ausreichend.

Wer keine Scheu vor englischsprachigen Apps hat, kann mit VisionHunt nicht nur die Farben erforschen, sondern auch die Lichtverhältnisse in einem Raum erkunden. Vollblinde können so herausfinden, wo sich ein Fenster oder eine offene Tür befindet und ob sie beim Verlassen eines Raums das Licht löschen sollten. VisionHunt stellt verschiedene Features für unterschiedliche Lichtquellen zur Verfügung und zeigt die Lichtintensität durch verschiedene Tonmuster an.

SeeingAssistant-Home LITE und Light Detector (0,89 Euro) erzeugen einen Dauerton, der mit höherer Lichtintensität ansteigt. Hilfreich wäre es, wenn sich mit solchen Apps auch leuchtende LEDs an Geräten entdecken ließen. In einem dunklen Raum ist das ganz gut möglich – vor allem mit VisionHunt –, aber nicht immer kann man alles verdunkeln, um herauszufinden, ob der Herd noch eingeschaltet ist.

Im Gegensatz zu Euro-Münzen, die Blinde und Sehbehinderte anhand ihres unterschiedlichen Randes gut ertasten können, sind Euro-Scheine nicht immer leicht voneinander zu unterscheiden. VisionHunt bietet hier ein drittes interessantes Feature: Die App erkennt nicht nur Dollarnoten, sondern auch Euro-Scheine. Allerdings muss man den Geldschein dafür völlig flach auf einen gut beleuchteten Tisch legen und die Kameralinse des Telefons exakt über einer bestimmten Stelle des Scheins platzieren.

Zwar unterstützt die App bei dieser Aufgabe wahlweise durch Tonsignale oder sprachliche Hinweise, die Autorin hat einzelne Versuche dennoch entnervt abgebrochen. Die deutschsprachige App LookTel Geldleser hat sich da als alltagstauglicher erwiesen, was den Preis von 8,99 Euro rechtfertigt. Freilich gibt es auch hier Fehlversuche, aber grundsätzlich reicht es, einen Geldschein vor die Kamera zu halten, um dessen Wert genannt zu bekommen. Das funktioniert selbst unter schummrigen Lichtverhältnissen.

Wenn die Brille nicht mehr ausreicht, um eine Speisekarte zu lesen oder ein Kreuzworträtsel auszufüllen, sind elektronische Lupen höchst willkommene Alltagshelfer. Mit SeeingAssistant-Home LITE oder der Gratis-App iLupe kann sich nun auch das Handy in eine Videolupe verwandeln. Das Funktionsspektrum dieser beiden Lupen-Apps ist allerdings eingeschränkt. VisionAssist dagegen erlaubt es der Anwenderin zum Preis von 5,99 Euro, über ein gut zugängliches Menü die Darstellung an ihre Bedürfnisse anzupassen. So lässt sich das Bild nicht nur stufenlos zoomen, sondern auch in seinen Kontrastwerten verändern.

Die Kamera nützt sogar Menschen, die selbst mit der besten Lupe nichts mehr lesen können. Verschiedene Apps scannen Zeitungsartikel, Medikamentenbeipackzettel, Rechnungsbons oder andere Dokumente und führen eine Texterkennung durch. Gute Ergebnisse lassen sich mit Prizmo (8,99 Euro) und mit TextGrabber+Translator (5,49 Euro) erzielen. Beide Apps unterstützen den Anwender bei der zweckmäßigen Handhabung der Kamera und generieren Text, der sich mit VoiceOver vorlesen lässt.

Bei der Objekterkennung verfolgen App-Entwickler unterschiedliche Ansätze, die sich für die Nutzer aber sinnvoll verbinden lassen. Zum einen gibt es Apps, die den Strichcode eines Produkts einlesen und im Internet nachschlagen, um dann Produktinformationen anzuzeigen. Dies tun die Gratis-Apps barcoo und codecheck sowie ebenfalls kostenlos – für Android – ScanLife Barcode and QR Reader.

Zum Preis von 17,99 Euro ermöglicht Digit-Eyes zudem das Erstellen eigener Barcodes, die sich mit einer Audiobeschreibung verknüpfen lassen. Scannt man ein so erstelltes Etikett, spielt die App die Tonaufnahme ab – beispielsweise die Apothekerangaben zur Dosierung eines Medikaments. Auch SeeingAssistant-Home LITE bietet Nutzern die Möglichkeit, selbst Informationen zu einem bestimmten Code zu speichern – in der kostenlosen Version nur als Text, in der kostenpflichtigen zum Preis von 3,99 Euro zudem als „Audioetikett“ –, bezieht aber keine Produktinformationen aus dem Internet.

Bei LookTel Recognizer (8,99 Euro) sind die gespeicherten Informationen ebenfalls individuell und nutzerspezifisch. Man fotografiert persönliche Gegenstände und versieht sie mit Text- oder Audioetiketten. Wenn ein in dieser Weise erfasster Gegenstand bei laufender App vor die Kameralinse kommt, zeigt LookTel Recognizer die dazu gespeicherten Informationen an oder liest sie vor. So lassen sich CDs, Kundenkarten und Dokumente identifizieren oder Gebrauchshinweise speichern.

Die einfach zu bedienende und zudem kostenlose App TapTapSee gibt schon in ihrem Namen eine Anleitung zu ihrem Gebrauch: Man fotografiert den fraglichen Gegenstand durch doppeltes Tippen und – sieht ihn. Nun ja, nicht wirklich, aber man erhält eine durchaus taugliche Beschreibung, allerdings in einem etwas gewöhnungsbedürftigen Gemisch aus Englisch und Deutsch: „Picture is grünen Pflanzen und weißen Rohr“ (ja, der Zitronenbaum auf der Terrasse steht neben der Dachrinne) oder „Picture is Flasche mit transparent Flüssigkeit“ (tja, Wasser oder Wodka?) Die App funktioniert nur mit Internetzugang: Sie durchsucht online eine große Produktdatenbank und wertet die dort enthaltenen Beschreibungen aus.

Die ebenfalls kostenlose App VizWiz dagegen setzt Crowdsourcing ein, um blinde und sehbehinderte Menschen beim Ausgleich visueller Defizite zu unterstützen. Man fotografiert die Situation, die Probleme bereitet, fügt dem Foto eine (gesprochene) Frage hinzu und sendet beides an eine Internet-Community – wahlweise an anonyme Helfer (registrierte Nutzer der Seite Amazon Mechanical Turk) oder an Facebook-Freunde. Die Fragen beantworten reale Menschen und zwar in der Regel sehr schnell.

Ist die Batterie des digitalen Helfers nach dem ausschweifenden Kameragebrauch noch nicht erschöpft, bietet sich eine Gratisrunde Audio Archery an – ein rein akustisches Bogenschießspiel mit gewissem Suchtfaktor. (ka)